Wege ins Forschungsfeld Teil I
Empirische sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte funktionieren nicht ohne die Beforschten. Das klingt erst einmal nach einer ziemlich banalen Erkenntnis. Tatsächlich hat sie aber weitreichende Folgen, denn für die Forschenden bedeutet dies im Vorfeld der empirischen Untersuchung, also bereits vor dem Eintritt in das Forschungsfeld, darüber nachzudenken, wie die Zusammenarbeit mit den Beforschten bestmöglich gestaltet werden kann, bzw. wie man überhaupt an sie rankommt. Schließlich hat niemand etwas davon, wenn man große Mühen betreibt, Zugang zu einer bestimmten Gruppe, z.B. einer Schulklasse, zu bekommen, um dann festzustellen, dass man sich nichts zu sagen hat oder die Beforschten die Kooperation verweigern.
In diesem Beitrag stellt Alex ein paar grundlegende Überlegungen zum Thema „Zugänge zum Forschungsfeld“ an, um euch auf die größten Hürden aufmerksam zu machen. Dazu nutzt Alex Beispiele aus der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf den organisatorischen bzw. administrativen Hürden, die im Vorfeld genommen werden müssen. In einem weiteren Beitrag geht es dann um die Kontaktaufnahme mit den Beforschten selbst. Beide Beiträge sind Teil der Serie Basics: Qualitative Forschung.
Gatekeeper regulieren den Zugang zum Forschungsfeld
In der Regel kann in empirischen, sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten der Kontakt mit den Beforschten erst hergestellt werden, nachdem bestimmte administrative bzw. organisatorische Hürden überwunden wurden. Als Beispiele seien hier die Befragung von SchülerInnen oder eine Mitarbeiterbefragung zum Thema Stress am Arbeitsplatz genannt.
Ich kann als ForscherIn schlecht direkt in den Klassenraum oder das Großraumbüro spazieren und anfangen die Menschen dort mit meinen Fragen zu löchern.
Zunächst sollte man sich also die Frage stellen, wer im Forschungsfeld ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die üblichen Abläufe und Routinen nicht gestört werden und womit sich dieses Interesse begründet. Diese sogenannten Gatekeeper kann ich dann in einem zweiten Schritt ansprechen und von der Wichtigkeit und Notwendigkeit meines Forschungsvorhabens überzeugen. Um das Ganze zu verdeutlichen, bleibe ich bei dem Beispiel der Befragung von SchülerInnen in der Schule. Wer hat also ein Interesse daran, dass Unterricht wie gewohnt und ohne Unterbrechung durch Außenstehende abläuft?
Die Leitungsebene: Schulleitung und Lehrkräfte
Da sind zunächst die Lehrkräfte und die Schulleitung. Grundsätzlich gilt, dass ohne die Zustimmung der Schulleitung in einer Schule keine Befragung stattfindet. Ich muss also die Schulleitung auf meine Seite holen. Sprich, ich muss dort anrufen oder auch um einen persönlichen Termin bitten, um das Forschungsvorhaben zu schildern. Im besten Fall kennt man schon die ein oder andere Lehrkraft an der Schule, auf die man sich berufen kann und die das Vorhaben unterstützt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten SchulleiterInnen diesbezüglich ganz offen sind, so lange der Unterricht nicht stundenlang unterbrochen wird. Es ist also einfacher, Mal einen Fragebogen in eine 8. Klasse „reinzureichen“, als SchülerInnen des Abiturjahrgangs für 90 Minuten aus dem Matheunterricht zu holen, um eine Gruppendiskussion durchzuführen.
Sicherlich spielen da auch politische Motive eine Rolle. Wird die Schule beispielsweise irgendwo positiv öffentlich erwähnt, weil sie an dem Forschungsvorhaben teilgenommen hat? Das könnte sich natürlich auf die Motivation auswirken, das Forschungsvorhaben zu unterstützen.
Ganz ähnlich wird es in Unternehmen gehandhabt. Ohne die Zustimmung der Leitungsebene geht wenig. Vorsicht ist hier besonders geboten, wenn schon im Vorfeld des Forschungsprojektes verschiedene Interessengruppen identifiziert wurden, zwischen deren „Fronten“ man geraten könnte; zum Beispiel, wenn man die Arbeitszufriedenheit in verschiedenen Abteilungen einer Firma untersuchen will.
Die Verwaltungsebene: Schulamt und Kultusministerium
Zurück zum Beispiel aus der Unterrichtsforschung. Hat man LehrerInnen und Schulleitung davon überzeugt ein wenig Zeit für das eigene Forschungsprojekt einzuräumen, geht es weiter mit dem Schulamt, der Bildungsagentur und/oder dem Kultusministerium. Wenige Dinge in Deutschland sind so gut geschützt, wie die Unterrichtszeit und die Daten der SchülerInnen.
Wenn man sein Forschungsvorhaben an staatlichen Schulen durchführen möchte, muss man in der Regel einen Antrag an die entsprechende Verwaltung stellen, in dem sehr sehr sehr genau beschrieben wird, was man untersuchen möchte, was mit den Daten geschieht, wer Zugang dazu hat, wo was veröffentlicht werden soll usw. Dann dauert es in der Regel einige Wochen bis man eine Rückantwort erhält. Manche Bundesländer gehen mit Forschungsprojekten im Unterrichtsehr entspannt um und man bekommt selbst Befragungen im Rahmen von Seminararbeiten o.Ä. genehmigt. Andere Bundesländer hingegen sind sehr streng und man muss hoffen, dass wenigstens die Dissertationsvorhaben in den Schulen genehmigt werden. Auch bei der Kommunikation mit Schulverwaltung und Kultusministerium gilt: Am besten ist es, sich zunächst telefonisch zu melden und bei den Verantwortlichen schon mal vorzufühlen, wie gut die Chancen stehen und wie man sie steigern kann.
Die besorgte Ebene: Eltern von SchülerInnen
Hat man dann endlich das Genehmigungsschreiben in der Hand, gibt es nur noch eine große Hürde: die Eltern der SchülerInnen. Niemand ist so besorgt, um Unterrichtsausfall und Ablenkungen vom Matheunterricht, wie Eltern – und das ist eigentlich auch gut so. Für Forschende bedeutet das allerdings einigen Mehraufwand. Die Zustimmung der Eltern zur Teilnahme ihrer Kinder an einem Forschungsprojekt holt man sich in der Regel mit einem sogenannten Elternanschreiben. Darin wird sehr genau erläutert, was man tun will, allerdings nicht so genau, dass die SchülerInnen schon Informationen bekommen könnten, die das Ergebnis verfälschen – ein schmaler Grat (hierzu werde ich bei Gelegenheit auch noch einen Beitrag schreiben).
Schwierig wird es immer dann, wenn man SchülerInnen nicht nur mit einem Fragebogen befragen möchte, sondern Audio- oder sogar Videoaufnahmen anfertigen möchte. Das braucht besondere Überzeugungsarbeit. In Jedem Fall sollte man hier den Eltern „gestufte“ Vorschläge machen. Beispielsweise stimmen viele Eltern einer Audioaufzeichnung noch zu, wohingegen sie einem Videomitschnitt des Unterrichts oder einer Gruppendiskussion streng widersprechen. Überlegt euch also im Vorhinein, ob ihr wirklich alles auf Video aufzeichnen müsst, oder ob es für die besorgten Eltern auch „ungefährlichere“ Alternativen gibt.
Überall das Gleiche – Sechs typische Reaktionen von Gatekeepern auf Forschungsanfragen
Ich habe mich hier für ein Beispiel aus der Schul- und Unterrichtsforschung entschieden, weil ich selbst dort die meiste Forschungserfahrung habe. Grundsätzlich gibt es jedoch in jedem Forschungsprojekt- und Forschungsfeld Gatekeeper, mit denen im Vorfeld der Untersuchung verhandelt werden muss. Wolff (2000) identifiziert sechs typische Reaktionen von Gatekeepern, auf die man sich als ForscherIn einstellen sollte. Er nutzt treffenderweise den Begriff „Immunreaktionen“, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei um Abwehrmechanismen eines sozialen Systems handelt, die ganz ähnlich geartet sind, wie die Immunantwort des Körpers auf Krankheitserreger.
Reaktion 1: „Hochzonen“ aka. die eigene Verantwortlichkeit verneinen
„Da muss ich erstmal die Chefin Fragen.“ oder „Oh, na das kann ich alleine nicht entscheiden.“ Das sind Sätze, die man typischerweise zu hören bekommt, wenn man sein Forschungsprojekt in einem Unternehmen oder in der Schule durchführen möchte. Eine direkte Antwort, egal ob Zu- oder Absage, wird vermieden.
Reaktion 2: Unermüdliches nachfragen
Man hat den Forschungsplan vorgelegt und diverse Anträge eingereicht. Dennoch bekommt nach mehrfach zu hören, dass noch dieses und jenes nachgereicht werden müsse oder Punkte des Antrages konkretisiert werden sollen.
Reaktion 3: Abwarten, Abwarten, Abwarten
„Wir bearbeiten ihre Anfrage schnellstmöglich.“ Das sind die letzten Worte, die einige ForscherInnen von den betreffenden Stellen hören, wenn sie nicht permanent nachfragen. Die Anfrage wird zunächst nicht bearbeitet und wird erst bei erneuter Nachfrage überhaupt ernstgenommen. Das schafft viele Anfragen von vorneherein vom Tisch.
Reaktion 4: Scheinangebote machen
Die Anfrage wird akzeptiert aber anstatt dem Forschungsvorhaben freie Bahn zu machen, werden andere Daten angeboten oder um Veränderung der eigentlichen Erhebungsinstrumente gebeten – wer lässt beispielsweise schon gerne den Stresspegel seiner Angestellten messen, wenn man weiß, dass man sie überfordert und zu wenige Ressourcen bereitstellt.
Reaktion 5: „Zuweisen“ bzw. das Forschungsprojekt „zurechtbiegen“
Anstatt das eigentlich beantragte Forschungsprojekt zu unterstützen, bieten einige Gatekeeper andere Zeitpunkte und Untersuchungsgelegenheiten an, die aus ihrer Sicht „besser passen“ als das eigentliche Projekt.
Reaktion 6: Eingemeinden
Mein persönlicher Favorit, der besonders häufig in Schulen anzutreffen ist. Der oder die Forschende wird in die jeweilige Institution „eingemeindet“ und das eigentliche Forschungsprojekt für andere Ziele instrumentalisiert. „Kannst du bei der Gelegenheit auch noch nach der Einstellung der SchülerInnen zum neuen Ganztagsangebot schauen?“ oder „Sehr gut, da können wir ja nachweisen, dass wir besser sind als Schule XY.“ In solchen Momenten ist Vorsicht geboten. Das eigene Projekt tritt in den Hintergrund und man läuft Gefahr zwischen die Fronten zu geraten.

Zum Glück sind das alles Strategien, auf die man sich im Vorfeld einstimmen kann. Im besten Fall erkennt man sie, sobald sie genutzt werden und hat bereits eine passende Antwort vorbereitet. Hat man es endlich geschafft, die unzähligen Gatekeeper vom eigenen Forschungsprojekt zu überzeugen, stellen sich dann ganz andere Fragen: Was ist mit den Beforschten? Wie schaffe ich es, dass sie mit mir sprechen und ehrlich Auskunft geben? Wie halte ich das Gespräch am Laufen, egal ob es nun um Interviews oder Gruppendiskussionen geht? Wie mache ich bei meiner teilnehmenden Beobachtung möglichst unsichtbar?
Das sind sehr wichtige Fragen und auch hier kann man viel verkehrt machen. Im nächsten Beitrag wird es deswegen um die Kommunikation mit den Beforschten und die Aufrechterhaltung der Forschungssituation gehen.
Wer mehr über Zugänge zum Forschungsfeld lernen möchte, kann hier anfangen zu lesen:
Wolff, S. (2000). Wege ins Feld und ihre Varianten. In: Flick, U., von Kardorff, E. & Steinke, I.: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt.